Ronja Räubertochter und das Konzept der Resilienz
von Mag. Romana Hinteregger (im Internet gefunden)

„In der Nacht, als Ronja geboren wurde, rollte der Donner über die Berge, ja, es war eine Gewitternacht, dass sich selbst alle Unholde, die im Mattiswald hausten, erschrocken in ihre Höhlen und Schlupfwinkel verkrochen.“

Wer kennt sie nicht – zumindest vom Hörensagen –die Geschichte von Ronja, der Tochter des Räuberhauptmannes Mattis und seiner Frau Lovis?

Ronja, die sehr behütet im Kreis der Räuber auf der Mattisburg aufwächst, glaubt lange, die große Steinhalle sei die ganze Welt. Als es an der Zeit ist, die Welt außerhalb der Burg zu erkunden, macht sie sich auf den Weg, um sich vor den Gefahren des Waldes, den Graugnomen, Grausedruden, Rumpelwichten, Dunkeldruden und Wasserfällen zu hüten.

Auch wenn der Vater fürchterliche Angst um seine Tochter hat gibt er ihr folgende Ratschläge mit auf den Weg; „Verirr dich nicht“ meint er, als Ronja zum ersten Mal alleine in den Wald will. „Und wenn ich mich doch verirre?“ „Dann suchst dir den richtigen Pfad“ „Na dann“ sagte Ronja
„Und dann hütest du dich davor in den Fluss zu plumpsen“ „Und was tu ich, wenn ich in den Fluss plumpse?“ fragte Ronja.
Schwimmst“ sagte Mattis.
„Na, dann,“ sagte Ronja und lernt alles kennen, wovor sie sich hüten muss.(Ronja Räubertochter, S18).

Weil sie sich ja nicht im Wald davor hüten konnte in den Fluss zu plumpsen, springt sie  am Ufer, dort wo das Wasser am wildesten tost, von einem glatten Stein zum anderen. „Sollte das Sich hüten überhaupt von Nutzen sein, dann musste sie es bei den Stromschnellen und Strudeln und nirgendwo sonst üben“. So lernte Ronja auch ihre Angst kennen und sich gleichzeitig darin zu üben, keine Angst zu haben.

Dieser Teil der Geschichte von Ronja Räubertochter beschreibt, wie Kinder physische und psychische Muskeln entwickeln können. Dabei nimmt die Autorin Astrid Lindgren in einzigartiger Weise ein Konzept vorweg, das in den letzten Jahren unter dem Begriff der „Resilienz“ große Popularität erlangt hat.

Das Verständnis von Resilienz im sozialpädagogisch, psychologischen Kontext leitet sich vom englischen Wort „resilience“ ab und bezeichnet allgemein die Fähigkeit, sich von einer schwierigen Situation nicht unterkriegen zu lassen und nicht daran zu zerbrechen. Gemeint ist somit eine psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken.

Woran erkennt man „resiliente“ Menschen?

Resiliente Menschen erkennt man an ihrem gesunden Maß an Optimismus. In schwierigen Situationen erinnern sie sich an ihre Stärken und suchen nach Lösungen. Sie bauen Freundschaften und Netzwerke auf, glauben nicht daran, immer perfekt sein zu müssen und können sich auch selbst loben.
„Resilienz ist keine unveränderbare Eigenschaft die man besitzt oder nicht, sondern eine Kapazität, die im Verlauf der Entwicklung im Kontext der Kind/Umwelt-Interaktion erworben wird.“ (Wustmann, S7)

Da man Resilienz in den ersten zehn Jahren am besten entwickeln kann ist es wichtig, Kinder möglichst früh in ihrem Lebenslauf mit unterschiedlichen Coping- und Bewältigungs-strategien vertraut zu machen, damit sie in erwartbaren Stress- und Risikosituationen als aktive BewältigerInnen und MitgestalterInnen ihres Lebens agieren können. Es geht aber nicht nur darum, eine Situation zu „überstehen“, sondern auch um daraus zu lernen und Fähigkeiten für das weitere Leben zu entwickeln.

Das Resilienzkonzept ist im Grunde kein völlig neues Konzept, sondern erweitert und verbindet schon vorhandene lösungs- und ressourcenorientierte Konzepte, die in den 1970er Jahren entwickelt wurden, wie z. B. das der Salutogenese (A. Antonowsky) und des Empowerments (H. Keupp u. a.).

Die Bedeutung des Resilienzparadigmas für die pädagogische Praxis

Um resilientes Verhalten bzw. Kompetenzsteigerung anzuregen, wird auf drei Ebenen angesetzt:
●    beim Kind,
●    in der Familie und
●    im außerfamiliären Umfeld,
wobei die drei Bereiche miteinander verwoben sind und gegenseitigen Wechselwirkungen
unterliegen.

Interessant wird das Konzept auch deshalb, weil es aktuelle, gesellschaftliche Entwicklungen nicht ignoriert, sondern auf die Verantwortung der Sozialpolitik hinweist. Armutsgefährdung und damit Risikokonstellationen von Kindern in Familien werden nicht auf die individuelle Ebene geschoben, sondern es wird darauf hingewiesen, dass durch aktive Angebote die sozialen Ressourcen in der Betreuungsumwelt des Kindes erhöht werden können.
Im Bildungs- und Erziehungskontext setzt Förderung von Resilienz auf der individuellen und auf der Beziehungsebene an.

Auf der Beziehungsebene stehen hier Eltern oder Betreuungspersonen im Vordergrund. Ihre Erziehungskompetenzen sollen gestärkt werden und dies besonders hinsichtlich eines positiven Modellverhaltens, einer konstruktiven Kommunikation zwischen Erziehungsperson und Kind, des elterlichen Kompetenzgefühls sowie der elterlichen Konfliktlösungsstrategien.
Eine solche Förderung kann beispielsweise über Elterntrainings oder über mediale Elternbildungsangebote erfolgen. Auf individueller Ebene geht es darum, Problemlöse-fertigkeiten, persönliche Verantwortungsübernahme, Selbstwirksamkeit, soziale Kompetenzen verbunden mit der Stärkung von sozialen Beziehungen sowie Stressbewältigungsstrategien von Kindern und Jugendlichen zu fördern.

Märchen und Geschichten als Möglichkeit, resiliente Verhaltensweisen zu veranschaulichen

Im Kontext der alltäglichen Interaktion mit Kindern ist der Einsatz von Märchen und Geschichten besonders empfehlenswert. Sie ermöglichen, resiliente Verhaltensweisen zu veranschaulichen, verschiedene Perspektiven einzunehmen und Problemlösungen nachzuvollziehen. Somit stellen sie Kindern wichtige Verhaltensmodelle zur Verfügung.

Im Mittelpunkt von Resilienz fördernden Märchen und Geschichten steht die Bewältigung eines Problems bzw. einer schwierigen Situation.
Die Hauptfiguren machen sich auf, um diese Situation zu verändern und zeigen dadurch Eigenaktivität. Sie übernehmen Verantwortung für das, was in ihrem Leben geschieht und glauben an die eigenen Fähigkeiten, diese Aufgaben lösen zu können. Sie bauen soziale Beziehungen auf, holen sich Unterstützung und lassen sich von Rückschlägen nicht entmutigen. Durch ihre Hilfsbereitschaft übernehmen sie auch Verantwortung für andere und tragen dazu bei, dass auch andere ihre Ressourcen entdecken können.

Wieder zurück zu Ronja Räubertochter

Bei ihren Streifzügen durch den Wald lernt Ronja Birk kennen. Birk ist der Sohn von Räuberhauptmann Borka, einem erklärten Feind von Mattis. Die Väter und Großväter haben sich schon gestritten und nichts und niemand kann die beiden Räuberhauptmänner davon abbringen, diese Tradition der Feindschaft fortzuführen. Borka hat sich auf der Flucht vor den Landsknechten samt seiner Sippe in einem abgespaltenen Teil der Mattisburg eingenistet.
Ronja und Birk entdecken, dass sie eine Art Seelenverwandtschaft verbindet und beschließen gegen den Willen von Mattis, in den Wald zu ziehen. Ronja bricht dadurch eine strenge Regel in diesem System; sie achtet mehr auf ihre Gefühle als auf generationsübergreifende Feindschaften und bringt dadurch die Erwachsenen in eine schwere Krise. Mattis sagt sich von seiner Tochter los, niemand in der Burg darf ihren Namen erwähnen.

Das Leben im Wald ist für die beiden Kinder aufregend und herausfordernd zugleich. Sie lernen Fische fangen um sich zu ernähren, wehren sich gegen Bären und Wildtruden und retten einem Pferd das Leben.
Ronja hat in Birk einen Bruderersatz gefunden, den sie innig liebt und trotzdem beschleicht sie immer wieder die Sehnsucht nach ihrer Mutter und ganz besonders nach Mattis, ihrem Vater.

Auch Mattis leidet unter der Trennung von Ronja, es darf ihn aber niemand auf seine Gefühle ansprechen.
Als im Herbst das Überleben im Wald für die Kinder immer schwieriger wird ist es Lovis, die Mutter von Ronja, die den Kindern immer wieder Brot zukommen lässt und es letztendlich schafft, Mattis zu überreden, sich wieder mit seiner Tochter zu versöhnen. Ronja und Birk kommen zurück in die Burg. Ronja ist wieder das geliebte Kind ihres Vaters und dennoch ist vieles ganz anders. Ronja weiß mit Bestimmtheit, dass sie im Frühling wieder gemeinsam mit Birk in den Wald ziehen wird und beide Kinder beschließen, nicht die Nachfolge ihrer Väter als Räuberhauptmann bzw. -frau zu übernehmen. Mattis erkennt die Entscheidungen von Ronja an und beendet auch noch den Konflikt mit Burka.

Damit beschreibt die Geschichte auch Wandlungs- und Übergangsprozesse wie die Ablösung der Kinder von ihren geliebten Eltern.
Ablöseprozesse sind für Eltern und Kinder eine große Herausforderung und manches Mal müssen Kinder sehr stark sein, um gegen den Willen der Eltern an die Grenze – in diesem Fall in den Wald – zu gehen, um ihren eigenen Entwicklungsaufgaben zu folgen. Verbunden damit sind schmerzhafte Abschiedsprozesse, die mit Angst um das Wohlergehen der Kinder und Trauer – sowohl um den veränderten Status von Kindsein als auch Elternsein – einhergehen.

Auch Erwachsene brauchen in diesen Zeiten Menschen, mit denen sie über ihre Gefühle reden können, FreundInnen und Partnerschaften die sie stärken und das Vertrauen darauf, dass aus dieser Krise etwas Gutes und Neues entstehen kann.

Und manches Mal brauchen vielleicht auch Erwachsene Geschichten wie die von Ronja, der Räubertochter.

Astrid Lindgren;           Ronja Räubertochter, Oetinger, 1982
Corina Wustmann        Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern, Beltz, 2004
Corina Wustmann        Das Konzept der Resilienz und seine Bedeutung für das pädagogische Handeln; Beitrag in Irina Bohn (Hrsg); Dokumentation der Fachtagung
„Resilienz – was Kinder aus armen Familien stark macht“,
ISS-Aktuell, 2/2006.